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Kirche von Tharau: Der Zustand Anfang Dezember des Jahres 2005 Foto: Schubbe

Rettung für die »Ännchen«-Kirche
Tharaus Gotteshaus hat das Glück, daß seine Pächterin es zum Touristenmagneten machen will
von Elimar Schubbe

Um die Jahreswende klagte ein PAZ-Leser über den Verfall der Kirchenruine in Tharau und darüber, daß sich niemand um die Rettung der Kirche kümmere. Offenkundig sind selbst engagierte Ostpreußen nur unzulänglich darüber informiert, was sich wirklich in ihrer Heimat tut. Die Kirche von Tharau ist dafür ein deutlicher Beweis, denn seit vielen Jahren gibt es bereits Bemühungen, die „Ännchen“-Kirche nicht nur vor dem endgültigen Verfall zu bewahren, sondern sie sogar zu restaurieren.

Genau 224 (zweihundertvierundzwanzig) steinerne Zeugnisse eines lebendigen Christusglaubens prägten das nördliche Preußenland, bis die Rote Armee einmarschierte und Stalin Königsberg mitsamt dem Umland dem sowjetischen Imperium einverleibte. Heute verwaltet ein von Putin eingesetzter Gouverneur der Russischen Föderation dieses Land, dessen Antlitz auch jetzt noch – sechs Jahrzehnte nach Flucht und Vertreibung der deutschen Bewohner – von schweren Wunden gezeichnet ist.

Von den 224 Gotteshäusern haben die meisten diese 60 Jahre nicht überdauert: Von 91 weiß man nur noch aus schriftlichen Quellen, daß es sie einmal gegeben hat. 67 sind, zerbröselnden Ruinen gleich, kaum noch als Kirchen zu erkennen. Daß der nach schwersten Kriegsschäden wiedererstehende gewaltige mittelalterliche Dom den totgeglaubten deutschen Charakter der Pregelstadt wiederbelebt, ist nur ein schwacher Trost: Denn nur einige wenige andere Kirchen geben noch Zeugnis von ihrer Bestimmung, werden gar als Gotteshäuser genutzt. Die meisten – sehr viele oft in jämmerlichem Zustand – verwittern weiterhin ihrem Ende entgegen.

Der russische Meisterfotograf Anatolij Bachtin aus Königsberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Staatsarchivs der „Oblast Kaliningrad“ hat sie alle besucht – in historischen Dokumenten oder dort, wo sie heute noch zu erahnen oder zu erkennen sind. Manche dieser Kirchen hat er Jahr für Jahr in erschütternden Bildern für die Nachwelt festgehalten und so ihren fortschreitenden Verfall dokumentiert.

Nur wenige dieser Kirchen waren wirklich Opfer des Krieges. Viele von ihnen – wie auch die in Tharau – überlebten gar unverletzt die letzten Kriegstage: Sie wurden in kommunistischer Zeit von den neuen Herren des Landes dem Verfall preisgegeben oder als Viehställe, Garagen, Lagerhallen für Baumaterial und für wer weiß noch was mehr genutzt – und schließlich nach der Wende als Steinbrüche.

Zusammen mit der Ostakademie Lüneburg gestaltete Bachtin eine Fotoausstellung über diese kirchlichen Opfer der Nachkriegszeit im Königsberger Gebiet. Sie wurde zum erstenmal in der Lübecker Marienkirche gezeigt. Es folgten weitere Stationen. Auf Initiative der NRW-Landesgruppe der Landsmannschaft Ostpreußen und des BdV wurden auch die Abgeordneten im Düsseldorfer Landtag mit dieser eindrucksvollen und zugleich ergreifenden Dokumentation des Versinkens eines Stückes abendländischer Kulturgeschichte konfrontiert.

Als die Bachtin-Bilder 1998 in der Bonner Kreuzkirche gezeigt wurden, führten einige engagierte Ostpreußen einen Bonner Architekten, mit dem sie befreundet waren, in die Ausstellung. Der Rheinländer Dieter Haese war vom Anblick der Ruinen so erschüttert, daß er sofort bereit war, mit seinen Freunden in das Königsberger Gebiet mitzufahren, um mit eigenen Augen zu prüfen, ob noch einige dieser aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden Kirchen zu retten wären. Anatolij Bachtin hatte eine Liste jener Gotteshäuser zusammengestellt, die noch restauriert werden könnten oder die wegen ihres besonderen architektonischen Wertes unbedingt vor dem endgültigen Verfall bewahrt werden sollten.

Die „Expedition” in das Königsberger Gebiet führte die Gruppe auch nach Tharau. Haese war von der dortigen Dorfkirche besonders beeindruckt. Die „Ännchen“-Kirche aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehörte zu jenen wenigen Gotteshäusern, die noch gerettet werden konnten. Sie verkörpert zudem noch in besonderer Reinheit den Stil der backsteingotischen mittelalterlichen Dorfkirchen mit dem charakteristischen Stufengiebel aus der Zeit des Deutschen Ordens. Haese entschloß sich spontan zu einem Engagement für dieses architektonische Kleinod. Es sollte dies der dritte Versuch werden, das Wahrzeichen von Tharau zu erhalten.

Bereits kurz nach Öffnung des Königsberger Gebiets für Ausländer – dieser Teil Ostpreußens war jahrzehntelang militärisches Sperrgebiet gewesen – wollte der damalige Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete Dietrich Rollmann die „Ännchen“-Kirche retten. Einige Zeit später bemühte sich eine Gruppe früherer Tharauer Bürger ebenfalls um Hilfen für die vom Verfall bedrohte Kirche. Beide Initiativen scheiterten an verschiedenen Widrigkeiten der Wendezeit. Der dritte Versuch, davon waren der rheinische Architekt und die Bonner Ostpreußen um den BdV-Vizepräsidenten Hans-Günther Parplies überzeugt, mußte gelingen, wenn die schwerverletzte Kirche nicht unwiederbringlich zu einer Trümmerstätte zerfallen sollte.

Das Ergebnis ihrer Fahrt durch das Königsberger Gebiet war 1999 die Gründung eines (bald als gemeinnützig anerkannten) „Förderkreises Kirche Tharau / Ostpreußen e. V.“. Nach langwierigen Bemühungen konnte von der zuständigen russischen Denkmalbehörde die Genehmigung für die Instandsetzung der Kirche eingeholt werden. Noch im Jahre 2000 schaffte Haese eigenes Baumaterial im Gesamtwert von 55.000 D-Mark nach Ostpreußen und legte damit privat den Grundstock für das Aufbauwerk – darunter waren unter anderem ein kompletter Satz von Dachziegeln für die Eindeckung der Kirche, eine Betonmischmaschine, ein gebrauchter Wohnwagen als Baubude und ein Stahlgerüst von 300 Quadtratmetern Fläche. Dieses Material kam in den Folgejahren von dem bewachten Bauhof „abhanden“ …

Manfred Ruhnau, der Vorsitzende der Bonner Kreisgruppe der Landsmannschaft Ostpreußen, lud 2001 anläßlich des 50jährigen Bestehens der Kreisgruppe zu einem Benefizessen für die Tharauer Kirche ein. Norbert Hauser, der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete von Bonn, übernahm die Schirmherrschaft über diese einzigartige Veranstaltung mit kulinarischen Köstlichkeiten aus der ostpreußischen Küche. Die Gäste dieses Abends und Freunde von Tharau, die nicht am Benefizessen teilnehmen konnten, füllten die Kasse des „Förderkreises“ mit mehreren tausend D-Mark (Das Ostpreußenblatt berichtete seinerzeit darüber). Mit dieser Spende konnte die Ruine wenigstens notdürftig gesichert werden.

Die architektonisch wertvollen Bauwerke, die sich die Russische Föderation allesamt angeeignet hat, werden bei der Denkmalbehörde des Königsberger Gebietes als bewahrenswerte Objekte geführt. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß diese russische Behörde etwas für die Erhaltung dieser Bauwerke tut (oder tun kann), denn ihr stehen im allgemeinen nur spärliche Rubel zur Verfügung. Und diese reichen meist nicht einmal dafür aus, die Kulturdenkmäler davor zu schützen, als illegales Baumaterial verwendet zu werden. Und wenn sich jemand mit eigenem Geld für die Erhaltung solcher Bauwerke engagieren möchte, bedarf er einer recht kostspieligen Genehmigung der Denkmalbehörde. Auch kann nicht irgendein qualifiziertes in- oder ausländisches Unternehmen mit Restaurierungsarbeiten beauftragt werden. In der Oblast sind nur zwei russische Unternehmen dafür lizensiert. Sie entscheiden, ob und falls ja, welche Firma sich als Subunternehmen betätigen darf.

Bei Tharau liegt ein (vielleicht positiver) Sonderfall vor: Das lizensierte russische Unternehmen „Goldene Bastion“ hat die Kirche für 15 Jahre vom russischen Staat gepachtet und ist selbst am Wiederaufbau interessiert. Nur hofft die „Goldene Bastion“ darauf, daß dieses Werk mit Hilfe deutscher Spendengelder vollbracht wird. Danach möchte die Pächterin die Kirche als Anziehungspunkt für geldbringende Touristen nutzen. In der Überlegung ist auch die Einrichtung eines Museums. Auch die jetzige russische Gemeinde Tharau hofft aus ähnlichen Gründen auf die Rettung der Kirche, ohne sich indes an den Kosten zu beteiligen (oder beteiligen zu können).

Für den „Förderkreis“ gestaltet sich die notwendige Zusammenarbeit mit den russischen Gesprächspartnern – auch bei oft freundschaftlichem Umgang – deshalb so schwierig, weil die verschiedenen verantwortlichen Autoritäten immer wieder ausgewechselt werden. Dieser Umstand und nicht nur die finanziellen Probleme, die zu lösen der kleine „Förderkreis“ alleine nicht die Kraft hat, läßt die Wiederaufbauarbeit immer wieder stocken. Immerhin hat die oberste Denkmalbehörde Rußlands in Moskau die Kirche von Tharau inzwischen in die Liste der besonders erhaltenswerten Kulturdenkmäler im Königsberger Gebiet aufgenommen und einmalig einen Zuschuß zu den Arbeiten geleistet, bis alle verfügbaren Denkmalmittel auf die Vorbereitung des Stadtjubiläums von Königsberg selbst konzentriert wurden.

Mit privaten Spenden und auch mit einigen tausend Euro von zwei deutschen Unternehmen konnte vor Weihnachten ein neuer Dachstuhl aufgesetzt und mit der Eindeckung der Kirche begonnen werden. Die deutsche Firma A.K.A.-Algermissen in Wittenberg hatte die Dachziegel zu einem günstigen Sonderpreis dem „Förderkreis“ verkauft.

Aber auch dann, wenn diese Arbeiten erfolgreich zu Ende gebracht worden sind, ist die „Ännchen“-Kirche noch immer nicht wirklich gerettet. Die Restaurierung des Innenraumes und des Turmes birgt noch genug Arbeit für etliche Jahre – und wird noch viel Geld benötigen.

Große Sorgen bereitet, daß ein wirkungsvoller Schutz der Kirche vor neuem Steinbruch und Wandalismus noch nicht ausreichend gewährleistet ist. In den zurückliegenden Jahren hatte die Tharauer Kirche wie die meisten anderen schwer unter solchen kriminellen Akten zu leiden. Vordringliche Aufgabe ist es jetzt, nachdem die in die Kirchenwand geschlagene Lastwageneinfahrt geschlossen und das Dach gedeckt ist, durch ein festes Tor und einen stabilen Zaun den Zugang zur Kirche zumindest zu erschweren.

Natürlich gibt es in Tharau auch Russen, die bereit sind, die Kirche zu bewachen. Aber niemand kann von ihnen verlangen, während der Aufbaupausen einen ehrenamtlichen Rundumwachdienst zu leisten. Und diese Aufbaupausen werden wohl noch immer recht lang sein, denn restauriert werden kann nur dann, wenn wieder genügend Spenden eingegangen sind.

Weitere Informationen über den Fortgang der Aufbauarbeit in Tharau: Hans-Günther Parplies, Gotenstraße 140, 53175 Bonn.
 


Das Volkslied, das Tharau bekannt machte

Bekannt wurden dieses kleine ostpreußische Dorf und seine Kirche durch das zu einem der bekanntesten deutschen Volkslieder gewordenen Hochzeitsgedicht aus dem Jahre 1637 auf die Pfarrerstochter Anna Neander aus Tharau (1618–1689). Zu ihren Nachfahren gehört übrigens der romantische Dichter und Komponist E.T.A. Hoffmann. Die mundartlichen Verse dieses Gedichtes werden (vielleicht fälschlicherweise) dem Liederdichter Simon Dach zugeschrieben, der zum Königsberger Dichterkreis „Kürbishütte“ gehörte. Ob dieses Gedicht zur Hochzeit der Anna Neander mit dem Pastor Johann Portatius gesungen wurde, wissen wir nicht, noch haben wir Gewißheit über den Komponisten der ersten Melodie. Der gleichfalls zur „Kürbishütte“ gehörende Königsberger Domorganist Heinrich Albert (ein Vetter von Heinrich Schütz) gab 1645 eine Liedersammlung heraus. Sie enthält einen dreistimmigen Satz des Liedes „Anke van Tharaw“. Albert hat über die Noten „incertis autoris“ (von unbekanntem Autor) geschrieben.

Von den wohl gut zwei Dutzend Vertonungen des „Ännchen“-Gedichtes hat nur die Melodie von Friedrich Silcher zu dem von Johann Gottfried Herder ins Hochdeutsche übertragenen Text den Weg in die Herzen der Deutschen gefunden. Dieses Lied gehört auch heute noch zum Repertoire der meisten Chöre, die das deutsche Volkslied pflegen. Sollte man nicht darauf hoffen, daß vielleicht von solchen Sangesgemeinschaften jene Hilfe käme, die es in den nächsten Jahren noch braucht, damit das Aufbauwerk in Tharau vollendet und damit ein Zeugnis deutscher abendländischer Kulturleistung in Ostpreußen für künftige Generationen bewahrt werden kann? E. S.
 

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt, Ausgabe 08/06 v. 25.2.2006


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