|
|
Ein Leben in Finsternis Wären nicht die russischen Behörden und Unternehmen am 1. Mai 1994 wegen des Feiertages alle geschlossen gewesen, hätte sich die ZDF-Redakteurin Ingeborg Jacobs nicht zur Tatenlosigkeit genötigt gesehen. Da die Journalistin den Tag aber mangels Ansprechpartner nicht nutzlos verstreichen lassen wollte, erkundigte sie sich nach einem interessanten Alternativthema. Ihre Kollegen vom russischen Fernsehen in Königsberg schlugen ihr daraufhin vor, doch mal bei der erst vor kurzem in die Region gezogenen Russlanddeutschen aus Kasachstan vorbeizufahren, vielleicht hätte die ja etwas Interessantes zu erzählen. Jacobs befolgte den Tipp, ohne zu ahnen, dass diese Russlanddeutsche, die gar keine Russlanddeutsche war, sie die nächsten zwei Jahrzehnte beschäftigen würde. Denn Maria Logwinenko entpuppte sich als geborene Liesabeth Otto, geboren 1937 im ostpreußischen Wehlau, die nach dem Tod der Mutter während der Flucht gen Westen 1945 mit ihren älteren Geschwistern wieder zurück in ihr Zuhause wollte, von diesen aber getrennt wurde und von da ab viele Jahre allein als sogenanntes „Wolfskind“ durch Litauen zog. Ingeborg Jacobs konnte kaum glauben, was ihr die Fremde alles erzählen wollte. Daher reiste sie später wieder und wieder zu ihr, fuhr mit ihr nach Litauen und besuchte Personen, die die Geschichte von Liesabeth Otto bestätigen konnten. Nicht alle Geschichten ließen sich verifizieren, so fand sich zum Beispiel keiner der litauischen Jungs, die damals beinahe die kleine Deutsche, die sich Maritje nannte, um ihre Herkunft zu verschleiern, erhängt hätten. Dafür fanden sich noch die Kinder der Fischer, die das Mädchen damals in einem Sack aus dem Fluss gefischt hatten, nachdem ein Bauer es vergewaltigt und im Wasser „entsorgt“ hatte. Auch die Bäuerin, die das Kind den ganzen Sommer bei sich hatte arbeiten lassen, um es dann im Winter auf die Straße zu setzen, war zu einem Gespräch bereit. Während manche Wolfskinder das Glück hatten, von einer litauischen Familie aufgenommen zu werden, behielt kaum einer Liesbeth lange bei sich. Da die Kleine zudem aufgrund der vielen traumatischen Erlebnisse zur Bettnässerin geworden war, durfte das Mädchen auch nur in Ställen schlafen. Als sie mit 16 Jahren nach einem Diebstahl gefasst wurde, kam sie in ein Kindergefängnis. Der Ort war für sie ein Paradies: Ein festes Dach über dem Kopf, regelmäßig was zu essen, Schulunterricht und Bücher ließen die junge Frau sich heimisch fühlen. Als sie wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde, sah sie keinen anderen Ausweg, als durch Diebstahl wieder in ihr vertrautes Heim zurückzukommen. Doch dieses Mal kam sie ins Frauengefängnis, wo harte Arbeit und eine strenge Hierarchie ihr das Leben zur Hölle machten. Als sie nach einer Vergewaltigung durch drei Wachsoldaten ein Kind bekam, gab sie dieses einer kurz vor der Entlassung stehenden Mitgefangenen, doch diese sollte Liesabeth noch furchtbar enttäuschen. Genauso wie der Vater ihrer Tochter Elena, die als einzige von Liesabeths drei Töchtern das Erwachsenenalter erreichte. Erst als Ingeborg Jacobs Liesabeth 1994 traf, hatte diese wieder so etwas wie ein festes Zuhause. Zwar hatte sie in den 70er Jahren über das Rote Kreuz ihren Vater und Bruder in Hannover gefunden, doch nach all den Jahren der Trennung stellten sie alle schnell fest, dass man sich massiv entfremdet hatte. Am Anfang des Buches ist eine Karte abgedruckt, welche die Orte von Hannover bis Nowosibirsk zeigt, in denen Liesabeth Otto zeitweise gelebt hat. Schon ein Blick auf diese Karte verdeutlicht, dass es das Schicksal mit dieser Frau nicht gut gemeint hat. Ihre Biographie vertieft diesen Eindruck anschaulich. R. Bellano Ingeborg Jacobs: „Wolfskind – Die unglaubliche
Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto“, Propyläen, Berlin
2010, geb., 317 Seiten, 19,95 Euro
Diskutieren Sie
diese Meldung in unserem Forum |