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Wolgadeutsche Flüchtlinge im Dezember 1929 in Swinemünde:
Ganze Geheimdienstdynastien verhindern noch heute eine Aufklärung

Rußland
Lupenreine Geschichtswissenschaft
Von Robert Korn

Dieses Urteil trifft nicht nur die beiden Wissenschaftler, sondern die gesamte Aufarbeitung des Stalinismus in der ehemaligen Sowjetunion“, verurteilte vergangene Woche die Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Anna Kaminsky, einen Richterspruch, der die historische Aufarbeitung noch nachhaltig beeinflussen wird. Das Bezirksgericht der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk hatte zuvor den Archivar Alexander Dudarew zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Dieser hatte dem Historiker Michail Suprun biographische Informationen von Rußlanddeutschen zugänglich gemacht, die in der Sowjetunion nach Sibirien deportiert worden waren. Das Verfahren gegen den ebenfalls angeklagten Historiker wurde wegen Verjährung eingestellt. Vor Gericht wurden die Lebensdaten der Deportierten sowie Angaben zu Verhaftung, Haftdauer und -ort als Teil der Privatsphäre ausgelegt, für deren geplante Publikation eine ausdrückliche Zustimmung der Betroffenen erforderlich gewesen wäre.

„Der Deutsche ist wie eine Weide. Wo man ihn hineinsteckt, dort gedeiht er auch“, ist auf dem Denkmal zur Erinnerung an die Wolgadeutschen zu lesen, das am 28. August dieses Jahres in der ehemaligen Hauptstadt ihrer Republik an der Wolga, Engels, anläßlich des siebzigsten Jahrestages der restlosen Vertreibung und der darauf folgenden jahrzehntelangen Schikanierung durch die Sowjets eingeweiht worden ist. Das sind die Worte des russischen Großdichters Alexander Solschenizyn. Doch was der Schriftsteller anerkennend meinte, nimmt sich auf diesem Denkmal angesichts des geschichtlichen Hintergrundes, vor dem sich die Tragödie dieser Volksgruppe abgespielt hat, als himmelschreiender Hohn aus.

Wer sich mit dem Schicksal der Rußlanddeutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat, wird das bestätigen. Besonders hart war das Schicksal der Menschen, die, völlig unschuldig, entrechtet, enteignet und nur wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit zu Staatsfeinden erklärt, nach dem hohen Norden gebracht wurden, um dort als Sträflinge unter unmenschlichen Bedingungen Schwerstarbeit zu verrichten. Beispielsweise auf der berüchtigten KGB-Gefängnisinsel Solowki im Weißen Meer in der Eismeerregion Archangelsk.

Die Zeit ist in der Sowjetunion stehengeblieben

Doch als der Historiker Viktor Danilow die wissenschaftlich-historische Konferenz „70jähriges Jubiläum des Beginns des Großen Vaterländischen Krieges und die Deportation der Rußlanddeutschen“, die der Denkmaleröffnung in Engels vorausgegangen war, eröffnete, schien es, die Zeit sei stehengeblieben. Denn der Direktor des Instituts für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität Saratow schätzte Stalin exaltiert als Schlüsselfigur des Sieges ein und rechtfertigte die Vertreibung der Wolgadeutschen zu Kriegsbeginn mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion (die jahrzehntelange Schikanierung nach dem Krieg wurde dabei nicht einmal erwähnt). Damit nicht genug, der stellvertretende Minister für Regionalentwicklung, Maxim Trawnikow, behauptete sogar, das Schicksal der Rußlanddeutschen sei nicht von der Sowjetmacht beschlossen worden, sondern  das „hatte ein deutscher Politiker schon zwanzig Jahre vor der Deportation in seinem Buch vorbestimmt“. 

Doch es gibt auch andere Stimmen in Rußland. Der 56jährige Dozent für Geschichte an der staatlichen Universität Archangelsk, Michail Suprun, beschloß, sich im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes der vielen Familien anzunehmen, die bis heute nicht wissen, was mit ihren in die Eismeerregion Archangelsk und nach Sibirien deportierten Angehörigen passiert war. Der Wissenschaftler plante ein vierbändiges Werk, für das er in den Archiven zu über 5.000 Einzelfällen recherchiert hatte. 

Doch im Herbst 2009 beschlagnahmte der Geheimdienst FSB das von Suprun zusammengetragene Material und eröffnete gegen ihn ein Strafverfahren. Aus Mangel an Beweisen übergab dann der FSB den Fall an die Staatsanwaltschaft. Mitangeklagt wurde Alexander Dudarew, Leiter des regionalen Informationszentrums der Polizei, der dem Historiker Suprun den Zugang zu den Akten ermöglicht hatte. Suprun überließ ihm seine Datensätze, die Dudarew dem DRK zukommen ließ, mit dem er eigenmächtig einen Nutzungsvertrag abgeschlossen hatte. Der Ansicht der staatlichen Anklage nach liege hier Kompetenzüberschreitung vor. Außerdem klagte auch die Familie eines Rußlanddeutschen, daß Suprun und Dudarew ihre Familiengeheimnisse unerlaubt publik gemacht hätten. Gegen Suprun wollte die Staatsanwaltschaft sogar Anklage wegen Landesverrats erheben. Jedoch scheiterte das Vorhaben an der dürftigen Beweislage.

Schwammige Vorwürfe „bei Bedarf“

Die russische Menschenrechtsbewegung „Memorial“ kritisierte diese Vorgehensweise als unwissenschaftlich. Zudem gebe es in der russischen Gesetzgebung keine präzise Definition dessen, was unter Privatsphäre zu verstehen sei. Daten, wie sie von Suprun recherchiert wurden, fänden sich in zahlreichen Datenbanken mit Listen von Opfern, etwa in der Datenbank des russischen Verteidigungsministeriums über die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg. Der Angeklagte Suprun selbst erklärte, mit den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben worden seien, könnte man „bei Bedarf“ jeden Wissenschaftler, Journalisten oder Biographen vor das Gericht zerren. Das sahen wohl auch die Zeugen der Staatsanwaltschaft ein, die während der Befragung von ihren Anklagen abrückten. Zum Schluß des für sie äußerst unangenehmen Verfahrens, das inzwischen internationale Resonanz erfahren hatte, forderte die Staatsanwaltschaft nur noch eine Geldstrafe für Suprun und eine Bewährungsstrafe für Dudarew.

Das Ende Oktober dieses Jahres gegen Michail Suprun aufgenommene Verfahren ist damit nun beendet. Der Angeklagte ist wegen Sammlung und Veröffentlichung privater Daten für schuldig befunden worden, bleibt aber straffrei. Richterin Swetlana Palamodowa begründete ihren Urteilsspruch mit der Verjährung der Taten. Supruns „Komplize“, Alexander Dudarew, wurde zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Doch worauf ist das FSB-Vorgehen gegen den Historiker Suprun zurückzuführen? Der Berater des Forschungsprojektes von Michail Suprun, Anton Bosch, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Historischen Forschungsvereins Nürnberg, meint, dahinter würden „Betonköpfe“ stecken, ganze Geheimdienst-Dynastien, denen auch die Nachkommen der unmittelbaren Täter angehörten und die allein deshalb kaum daran interessiert wären, etwas aufzudecken oder am Stalin-Mythos zu rütteln. 

Die Täter selbst haben sich gut abgesichert. Am 1. Juli 1994 wurde in Rußland gesetzlich festgelegt, daß die Namen der Täter weder gesammelt noch genannt werden dürfen. Deshalb stößt natürlich auch die Aufarbeitung der Schicksale deutscher Opfer in Stalins Gulag auf Widerstände, deshalb wird die Vertreibung der Wolgadeutschen bis heute gerechtfertigt, der Genozid an ihnen geleugnet und selbst dem Denkmal der Opfer eine zynische Aufschrift verpaßt. 

Weitreichende Folgen für Stalinismus-Aufarbeitung 

Und noch eine Frage bleibt offen. Warum ist während der Suprun-Verhandlung der Protest rußlanddeutscher Organisationen ausgeblieben, während sogar Kundgebungen zur Unterstützung des Historikers stattfanden wie beispielsweise Ende Oktober vor der russischen Botschaft in Stockholm? Anton Bosch wurde nicht müde, die deutsche Öffentlichkeit und die Medien auf den Fall aufmerksam zu machen. Dabei hätte der formale Vertreter der rußlanddeutschen Volksgruppe im Nationalitätenausschuß, Heinrich Martens, der als Präsident des Internationalen Vereins der (deutschen) Kultur (IVdK) und der Föderalen Nationalkulturellen Autonomie (FNK), die die Bundesrepublik mitfinanziert, viele Möglichkeiten, auf die Aufklärung einzuwirken. 

Doch diese aus dem Boden gestampften Organisationen sind den Rußlanddeutschen als Ersatz für ihre von Stalin geraubte Autonomie aufgezwungen worden und werden vielfach als Stimme der Moskauer Machthaber wahrgenommen. Dem Exodus in die Bundesrepublik haben sie nicht wirklich entgegengewirkt. Martens ist zudem offensichtlich mehr um den Erhalt seiner gutbesoldeten Ämter besorgt als um die Aufarbeitung des Schicksals der Rußlanddeutschen. 

Die Folgen des Archangelsker Verfahrens sind jedenfall weitreichend und dürften für die historische Aufarbeitung des gesamten Stalinismus schwerwiegende Folgen haben. Bereits jetzt gewähren zahlreiche Regionalarchive ebenso wie große russische Staatsarchive Historikern keinen Zugang mehr zu Akten über politische Verfolgungen und stalinistischen Terror. 

Quelle:
JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co., Nachrichten, JF 52/11, 29.12.2011,
http://www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M57c6b1cc148.0.html

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